Warum die Ukraine zu einem Balkanstaat werden sollte

Die Ukraine sollte Mechanismen und die Beitrittsdynamik Südosteuropas für sich nutzen, um sich überzeugender als potentielles EU-Mitglied zu präsentieren.

Nach Jahren der Stagnation sind die Westbalkanländer wieder auf der EU-Beitrittsagenda. Mitte Mai 2018 findet der Balkangipfel der bulgarischen EU-Ratspräsidentschaft in Sofia statt. Diese und ähnliche Entwicklungen passieren bislang ohne Einbeziehung der Ukraine, Moldaus und Georgiens. Kiew und Tiflis könnten, wie Chişinău das schon teilweise tut, ihre europäischen Ambitionen durch Teilnahme an neuen Integrationsmechanismen des Westbalkans bekräftigen und damit einen Schritt zu einer künftigen EU-Beitrittskandidatur machen. 

Wie kann Kiew Westeuropa davon überzeugen, dass die Zukunft der Ukraine in der EU liegt? Vielen Entscheidungsträgern in der Union und ihrer alten Mitgliedsstaaten fehlt es Vertrauen in das Integrationspotential der Ukraine. Es herrscht noch immer (oder wieder einmal) Skepsis gegenüber der ukrainischen Regierung. Sachkundige europäische – einschließlich ukrainische – Beobachter sprechen den heutigen Reformbestrebungen der Post-Maidan-Ukraine hinreichende Ernsthaftigkeit ab. Sie glauben nicht, dass die jetzige Führung in Kiew fähig ist, jene tiefgreifende Veränderungen zu bewältigen, die notwendig wären, um die Ukraine EU-reif zu machen.

Daher scheuen sich insbesondere westeuropäische Politiker und Diplomaten vor der Verantwortung, die Ukraine auf das Niveau eines offiziellen EU-Beitrittskandidaten zu heben. Die damit bis auf weiteres andauernde Abwesenheit einer ausdrücklich Mitgliedschaftsperspektive wiederum beraubt die proeuropäischen Kräfte in der Ukraine eines wesentlichen Transformationsinstruments. Es fehlt der EU-Delegation in Kiew am entscheidenden Hebel bei der Durchsetzung des Assoziierungsabkommens. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, gilt es neue Wege zu suchen.

Ein alternativer Ansatz zur EU-Annäherung der Ukraine und Georgiens

Die Skepsis der westlichen politischen Elite bezüglich der ukrainischen Europäisierung ist zwar verständlich. Sie steht jedoch in gewissem Widerspruch zu der immer positiveren Einstellung der westeuropäischen Öffentlichkeit, des Europäischen Parlament oder auch der meisten Osteuropaexperten bezüglich einer Beitrittsoption für die Ukraine seit der Orange Revolution von 2004 und insbesondere seit der sog. Revolution der Würde von 2013-2014 sowie der anschließenden Ratifizierung des Assoziierungsabkommens. Trotz dieses relativen Stimmungswechsel, sind insbesondere westeuropäische Staats- und Regierungschefs bislang nicht geneigt, auch nur die Option einer künftigen Mitgliedschaft eindeutig einzuräumen. Manche im Westen sind besorgt über die Reaktion des immer unberechenbarer werdenden Russlands auf ein offizielles Beitrittsangebot der EU an die Ukraine. Ähnliche Zweifel und Befürchtungen finden sich in der Einstellung der EU gegenüber Moldau und Georgien.

Vor diesem Hintergrund wird es für Chişinău, Kiew und Tiflis sowie die Freunde Moldaus, der Ukraine und Georgiens in Europa nicht einfach werden, die diversen Ängste und negativen Sichtweisen der politischen Klasse Westeuropas bezüglich einer weiteren Osterweiterung der Union zu überwinden. Ein Weg für Kiew und Tiflis, diesen Widerständen entgegenzuwirken, ist es die Kooperation mit denjenigen europäischen Ländern zu verstärken, die vor kurzem Mitglieder bzw. Mitgliedschaftskandidaten der EU geworden sind bzw. die zumindest bereits eine offizielle Beitrittsperspektive haben – einen Weg, den Chişinău bereits seit einigen Jahren beschreitet.

Nach Ende der Balkankriege führte der Stabilitätspakt für Südosteuropa unter anderem zur Gründung einer Reihe neuer übernationaler Reforminstitutionen auf dem Westbalkan. Dies sind die folgenden südosteuropäischen Organisationen:

  • Regionaler Kooperationsrat (RCC)
  • Zentraleuropäisches Freihandelsabkommen (CEFTA)
  • Regionalen Antikorruptionsinitiative (RAI)
  • Südosteuropäisches Gesundheitsnetzwerk (SEEHN)
  • Südöstliche Arbeitsgruppe für regionale und ländliche Entwicklung (SWGRD)
  • Zentrum für öffentliche Arbeitsvermittlung für südosteuropäische Länder (CPESSEC)
  • Regionales Zentrum für Jugendkooperation (RYCO)
  • Südosteuropäisches Strafverfolgungszentrum (SELEC)
  • Zentrum für Sicherheitskooperation (RACVIAC)
  • Bildungsreforminitiative für SOE (ERISEE)
  • Regionale Schule für öffentliche Verwaltung (RESPA)
  • Regionales Katastrophenschutzvorbereitungszentrum (DPPI)
  • Südosteuropäisches Zentrum für unternehmerisches Lernen (SEECEL)
  • Exzellenzzentrum für Finanzen (CEF)
  • Regionales Umweltzentrum (REC).

Darüber hinaus gibt es ein hochrangiges zwischenstaatliches Dialogformat, den sogenannten „Berliner Prozess“, der die politischen Führungsebenen des westlichen Balkans mit der interessierten Elite der EU-Mitgliedstaaten regelmäßig zusammenbringt. Die informelle Veranstaltungsreihe wurde von Deutschland im Jahr 2014 initiiert, um die politische Stabilität, EU-Annäherung und nationale Sicherheit der südosteuropäischen Beitrittskandidaten zu fördern.

Diese Institutionen, Formate und Netzwerke haben im vergangenen Jahrzehnt erheblich – wenn auch von der breiteren Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt – zur „Europäisierung“ des Westbalkans, d.h. zu dessen Anpassung an EU-Standards, beigetragen. Das geschieht im Rahmen obiger Strukturen durch unspektakulären aber effektiven Peer-Control sowie durch Benchmarking und regionalen Erfahrungsaustausch von Experten und Politikern, welche dem Ziel der EU-Integration verpflichtet sind.

Die Ukraine und Georgien sollten versuchen, diese Mechanismen und die Beitrittsdynamik Südosteuropas für sich zu nutzen. Der assoziierte EU-Ostpartnerschaftsstaat Moldau ist bereits Mitglied in etlichen der südosteuropäischen beitrittsvorbereitenden Strukturen. Sollte es auch den beiden anderen assoziierten Ostpartnerschaftsländern Ukraine und Georgien gelingen, zumindest einigen der 16 SOE-Reforminitiativen beizutreten, könnte dies Kiew und Tiflis helfen, sich überzeugender als bisher als potentielle künftige EU-Mitglieder zu präsentieren. Durch Aufnahme in viele oder sogar alle der oben genannten Formate könnten Kiew und Tiflis, dem Beispiel Chişinăus folgend, nach und nach in die Gruppe der EU-Beitrittskandidaten – quasi „durch die balkanische Hintertür“ – übergehen. Letztendlich könnte dies zu einem zwar bedingten, aber offiziellen Brüsseler Mitgliedschaftsangebot an Moldau, die Ukraine und Georgien – ähnlich der sog. Thessaloniki-Agenda der EU für die Westbalkanstaaten von 2003 – führen.

Praktische Fragen einer Nutzung der SOE-Integrationsmechanismen

Zum Beispiel wurde 2001 das Exzellenzzentrum für Finanzen (CEF) von der slowenischen Regierung in Zusammenarbeit mit anderen ehemaligen jugoslawischen Ländern und Albanien im Rahmen des Stabilitätspakts für Südosteuropa eingerichtet. Seit 2015 ist das CEF eine vollwertige internationale Organisation mit Sitz in Bled, Slowenien, und profitiert von der Unterstützung der Niederlande. Das CEF beschäftigt sich mit der Verbesserung der Verwaltung öffentlicher Finanzen, der Steuerpolitik sowie des Zentralbankwesens und bringt politische Entscheidungsträger und Finanzexperten zur Kapazitätsentwicklung und zum Peer Learning zusammen. Zu den 12 Mitgliedsländern des CEF gehören nicht nur die westlichen Balkanstaaten, sondern auch Rumänien, Bulgarien, Moldau und die Türkei.

Trotz der großen Bandbreite seiner Mitglieder und offensichtlichen wirtschaftlichen Relevanz des CEF, schließt es jedoch – wie die anderen oben genannten Formate – die Ukraine und Georgien bisher nicht ein. Und das obwohl Kiew und Tiflis bereits über einschlägige Erfahrungen bei der Erlangung von Mitgliedschaft in einem ursprünglichen SOE-Format gesammelt haben. Die Ukraine und Georgien sind – zusammen mit den westlichen Balkanländern und Moldau – Vertragsparteien der EU-Energiegemeinschaft. Diese außenpolitische Linie sollte von Kiew sowie Tiflis ausgebaut werden und zu einer Einbeziehung der Ukraine sowie Georgiens in möglichst viele der genannten EU-Integrationsprogramme in Südosteuropa führen.

Würden die Balkan-Gründungsländer der bisher weitgehend südosteuropäischen Regionalstrukturen einer ukrainischen und georgischen Mitgliedschaft zustimmen? Moldau – ein Land, das aus demselben postsowjetischen Kontext wie die Ukraine und Georgien stammt und ebenfalls Teil der Östlichen Partnerschaft der EU ist – nimmt bereits, wie erwähnt, in den meisten der aufgelisteten SOE-Strukturen, einschließlich der RCC oder CEFTA, teil. Wenn der große östliche Nachbar Moldaus, die Ukraine, diesem Beispiel folgt, würde das den SOE-Institutionen neues Gewicht verleihen. Die Ukraine würde die Bedeutung der südosteuropäischen Integrationsstrukturen aufgrund ihrer Marktgröße und geopolitischen Relevanz als ein Schlüsselstaat zwischen Russland und dem Westen erhöhen – eine weltpolitische Bedeutung, die den Balkanländern fehlt. Eine Kombination der ausgefeilten EU-Reformagenda für den Westbalkan mit dem perspektivisch großen ukrainischen Wirtschaftspotential würde den SOE-Institutionen neue Existenzberechtigung verleihen.

Die Ukraine sollte für Politiker und Diplomaten des Westbalkans, die eine Annäherung ihrer Länder an den Westen fördern wollen, auch aus einem anderen Grund von Interesse sein. Internationale Unterstützung für die Ukraine in ihrem Konflikt mit Russland ist in den letzten Jahren für viele Entscheidungsträger in Washington, Brüssel oder Berlin ein Zeichen für eine prowestliche Haltung geworden. Die westlichen Balkanländer sollten daher einen Beitritt der Ukraine zu ihren Strukturen nicht nur aus Solidarität mit dem angeschlagenen östlichen Partner der EU fördern. Solch ein Verhalten könnte für die balkanischen Beitrittskandidaten auch angesichts ihres eigenen nationalen Interesses an engeren Beziehungen zu den USA, der EU und Deutschland von Nutzen sein.

Ukrainische Sichtweisen auf die europäische Integration

Viele Ukrainer tendieren dazu, die Dringlichkeit einer Aufnahme ihres Landes in westliche Strukturen aus einem manichäischen Weltbild heraus zu argumentieren. Sie präsentieren sich oft als ausdrücklich nicht-russisch, anti-eurasisch sowie pro-westlich und werben für die Relevanz ihres Landes als ein Bollwerk europäischer Zivilisation gegen östliche Barbarei. Ob man solche Argumente akzeptiert oder nicht – dies ist kein Ansatz, der in der EU als eine umsetzungsfähige außenpolitische Leitlinie betrachtet wird. Die EU ist weder als antimoskowitische oder kontraeurasische Union entstanden, noch definiert sie heute ihre Identität in solcher Art und Weise – wie sich dies viele in Kiew wünschen. Dieses Manko mag man bedauern oder nicht – Kiew muss auf die Usance des Clubs, dem es beitreten möchte, eingehen. Die EU wird sich kaum auf die hyperdualistische Sichtweise der ukrainischen Elite auf Osteuropa einlassen, geschweige denn ihre Erweiterungspolitik danach ausrichten.

Stattdessen war und ist das Europäisierungskonzept Brüssels, den Kontinent durch vertiefte wirtschaftliche Integration, partielle kulturelle Annäherung, kumulative bürokratische Standardisierung und immer weitergehende Demokratisierung zu befrieden und politisch zu einen. Eine Art Kollateralnutzen der europäischen Integration ist freilich auch die sicherheitspolitische Einbettung, internationale Gewichtserhöhung und nichtmilitärische kollektive Verteidigung – vor allem durch die enormen wirtschaftlichen Hebel der EU – für alle EU-Mitgliedsländer. Die geopolitischen Plattenverschiebungen infolge des europäischen Einigungsprozesses sind jedoch nicht dessen Triebkraft. Der Modus operandi der EU ist vielmehr eine Anhäufung von Minischritten, die im Laufe der Zeit in ihrer Summe und Interaktion zu qualitativen Veränderungen führen. Anders als ich das viele Osteuropäer wünschen, neigte Brüssel nur selten zu großen Schritten, die eine Veränderung der Welt nach einem klar definierten Endergebnis zum Ziel haben.

Ukrainische Diplomaten und Experten sind mit der spezifisch postmodernen Natur der europäischen Integration und ihrer Auswirkungen über die Grenzen der EU vertraut. Doch die breitere politische sowie intellektuelle Elite der Ukraine und insbesondere ihre Meinungsmacher sowie Parteichefs haben noch nicht verinnerlicht, dass die Ukraine nur durch ernsthafte Anpassung an diesen Prozess Teil der EU werden kann. Die häufig bombastische Rhetorik ukrainischer Auslandsvertreter, verschiedenen PR-Kampagnen ukrainischer Künstler und Aktivisten, emotional aufgeladenen Appelle an westliche Politiker, ausschweifenden Bezüge auf die europäische Beziehungsgeschichte der Ukraine und vielerlei dahingehende symbolische Gesten sind angesichts der existentiellen Bedrohung für das Land heute verständlich. Sie sollten vor dem Hintergrund der epischen Konfrontation der Ukraine mit dem russischen Imperialismus, des enormen Leidens und tausender Toter infolge von Moskaus fortgesetztem Hybridkrieg im Donezbecken, der Rücksichtslosigkeit der internationalen Verleumdungskampagnen des Kremls gegen den ukrainischen Staat sowie die anhaltenden Naivität vieler westlicher Beobachter bezüglich der Natur des Putinismus gesehen werden.

Schlussfolgerungen

Für die Ukraine ist die EU heute daher ein nicht nur wirtschaftlich hochattraktives Projekt. Sie ist mindestens ebenso attraktiv als ein Sicherheitsgarant gegenüber Moskau. Dennoch kann und wird die EU die bürokratische und weniger geostrategische Logik ihrer Funktionsweise aufgrund des russisch-ukrainischen Krieges nicht ändern. Weitere Erfolge bei der europäischen Integration der Ukraine werden daher aufwändigen Verfahren folgen müssen, die der komplizierten Formulierung und Ratifizierung des Assoziierungsabkommens durch die Ukraine oder der langwierigen Aushandlung und Umsetzung des ukrainischen Aktionsplans zur Visaliberalisierung mit der EU ähneln. Die verschiedenen Kooperationsrahmen der westlichen Balkanstaaten mit Brüssel und Berlin bieten vorgefertigte Wege, um eine Strategie der schrittweisen Annäherung durch pragmatische statt rhetorische Mittel zu verfolgen. Neben der Beschleunigung ihres laufenden Assoziierungsprozesses mit der EU sollten die Ukraine und Georgien auch die transnationalen SOE-Partnerschaftsprogramme und ähnliche Instrumente für die Transposition von europäischem Wissen, EU-Regeln und westlichen Praktiken aktiv nutzten.

 

Günther Fehlinger ist Vorsitzender der Nichtregierungsorganisation „Europäer für Steuerreformen“ und Vorstandsmitglied der Aktionsgruppe für europäische und wirtschaftliche Integration des südlichen Balkans.

Andreas Umland ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Euro-Atlantische Kooperation Kiew sowie Herausgeber der Buchreihe „Soviet and Post-Soviet Politics and Society“ beim ibidem-Verlag Stuttgart.

Der European Council on Foreign Relations vertritt keine gemeinsamen Positionen. ECFR-Publikationen geben lediglich die Ansichten der einzelnen Autor:innen wieder.