Medien und europäische Politik – Anmerkungen zu einem symbiotischen Verhältnis

Beide Seiten, Politik und Medien, scheinen sich in ihrer zwiespältigen Beziehung zueinander wohnlich eingerichtet zu haben – sehr zum Nachteil Europas.

Europapolitik und Europaberichterstattung – diese Begriffe stehen für eine schwierige Beziehung, deren Geschichte von Missverständnissen und Versäumnissen, von enttäuschten Erwartungen, unerfüllten Hoffnungen und wechselseitigen Schuldzuweisungen handelt. Die Idee vom friedlichen Zusammenwachsen der Völker Europas in einer gemeinsamen politischen Ordnung ist so groß, dass ihre seit den Römischen Verträgen von 1957 von Lorbeer umstandene, blumenbouquethafte Beschwörung im Feiertagston im Spiegel einen kritischen Journalismus schon lange nicht mehr überzeugen konnte. Gleichzeitig verlangte diese Idee, ohne die drohende Existenz eines äußeren Feindes, ein hohes Maß an Vorstellungskraft über die Verhältnisse der Zukunft; zu hoch und zu abstrakt, um zum Stoff einer Berichterstattung zu werden, die den Horizont ihrer Leserschaft, Zuhörer und Zuschauer zum Richtmaß ihrer Schwerpunktsetzung macht.

Europa war in diesem Sinne stets mehr als die Summe seiner Erscheinungen, und es war stets weniger, die große Vision und das kleine Karo zugleich. Die Realität der Integration blieb stets hinter ihren deklaratorischen Zielen zurück, und selbst diese wurden in einer Ambivalenz formuliert, um unterschiedliche Zielvorstellungen und Leitbilder zuzulassen. In ihren Strukturen ist die Europäische Union noch immer ein hybrides Gebilde, das vielfältiger Kritik breite Angriffsflächen bietet, sich aber nur mit Mühe verteidigen lässt für das, was es ist. Europa braucht zu seiner Begründung  immer die Vorstellung von dem was es werden könnte, und ein Gefühl dafür was wäre, wenn es diese EU nicht gäbe. Mit beidem wäre in der Mediengesellschaft kein Pulitzer-Preis zu gewinnen, es sei denn, er würde von Brüssel selbst ausgelobt.

Vieles wäre einfacher, wenn Politik auf europäischer Ebene so funktionierte wie innerhalb der Staaten Europas. Trotz aller institutionellen Reformen der letzten 25 Jahre ist die Europäische Union jedoch noch immer nicht in Analogie zur politischen Ordnung in den Mitgliedstaaten zu begreifen, trotz der Existenz eines Parlamentes und einer scheinbaren Regierung. Europa ist nicht einfach als parlamentarische Demokratie zu vermitteln, und ungeachtet seiner zahlreichen Präsidenten und rotierenden Präsidentschaften auch nicht als Präsidialsystem.

Vieles wäre auch einfacher, wenn die Europäische Union die Nationalstaaten abgelöst oder zu Gliedern eines Bundes herabgestuft hätte, wie es sich die zahlreichen regionalistischen Strömungen erträumt haben. Das Gegenteil ist der Fall, ohne jedoch ins öffentliche Bewusstsein eingedrungen zu sein: Integration hat sich als Überlebensrezept der kleinräumigen Staatenlandschaft auf dem Kontinent erwiesen; sie eröffnete Skalenvorteile für mehr Wohlstand und Sicherheit in einer zunehmend global werdenden Konkurrenz auf eine so zurückgenommene Art und Weise, dass es vielen politischen Akteuren und noch mehr europäischen Bürgern auch heute so scheint, als seien ihr jeweiliger Staat der eigentliche Garant von Gegenwart und Zukunft.

Vor diesem Hintergrund lässt sich die Schwierigkeit der Vermittlung Europas durch Medien erahnen, seine Sperrigkeit als hartes Thema, seine Verbrauchtheit als weiches Thema spüren. Europäische Themen benötigen ein zu viel an Erklärung zum Ausgleich des zu wenig an Vorverständnis und Vertrautheit. Darunter leiden die politischen Akteure, die von Kommunikation und Vermittelbarkeit abhängen. Zum Ausgleich nutzen sie die für sie missliche Lage schamlos aus, indem sie Erfolge als Ergebnis ihrer eigenen Durchsetzungskraft vermitteln und Kritik auf das entfernte, technokratische und regelungswütige Brüssel ableiten.

Europa in den Medien, die Medien und Europa – aus diesem Stoff ließen sich unendliche Geschichten spinnen, die aber niemand wirklich lesen will; sie enthalten keine einfachen und kaum angenehme Botschaften, nicht für die Politik, und nicht für die Medien. Warum dies so ist, sollen die folgenden fünf Beobachtungen verdeutlichen.

1.            Die Falle der Begrifflichkeiten

Europäische Integration ist ein zieloffener Prozess. Die Verträge zur Europäischen Union erlauben trotz ihrer ambitionierten Sprache unterschiedliche Interpretationen ihres Status und ihrer Bewegungsrichtung. Die EU lebt in der Spannung der mit ihr verbundenen Begrifflichkeiten, die Verträge begründen weder eine bundesstaatliche Ordnung noch beschränken sie die EU auf einen Staatenbund. Die Europäische Union enthält Elemente beider Kategorien; die zahlreichen Reformschritte seit dem Vertrag von Maastricht haben diese Ambivalenz nicht aufgelöst, sondern in der Vertiefung der Integration nur fortgeschrieben – und die EU der begrifflichen Falle der Europapolitik nicht entzogen, sondern sie tiefer darin verstrickt.

Einen europäischen Bundesstaat können sich viele Menschen nur als Superstaat vorstellen, dessen Ablehnung ihnen geradezu natürlich erscheint. In der Begrifflichkeit der „Vereinigten Staaten von Europa“ klingt für sie nicht der Emanzipationsgedanke der amerikanischen Verfassungsväter an. Vielmehr dominiert vielfach die Wahrnehmung der Supermacht USA und deren Hybris. Die Vorstellung eines Staatenbundes trifft demgegenüber kaum auf Vorbehalte; nicht ohne Grund gehört das Zielbild freiwilliger und begrenzter Zusammenarbeit von Vertretern souveräner Staaten zum Argumentationskern der Europa-Kritik. Die Schwäche dieses Bildes liegt in seinem mangelnden Bezug zur Wirklichkeit, denn etliche der Wohlstand und Sicherheit schaffenden Leistungen der Europapolitik wären mit diesem Ordnungsmodell nicht erreicht worden.

Die Verwirrung der Zielbilder steigt durch die Gleichzeitigkeit gegenläufiger Trends. Europa wird heute einerseits geprägt durch die zentripetale Dynamik innerhalb der Eurozone, erzwungen durch die politische Entscheidung, die gemeinsame Währung gegen die Krise zu behaupten. Unter dem Druck der Verhältnisse entsteht „mehr Europa“ – tiefere Integration, paradoxerweise hauptsächlich getrieben durch intergouvernementales Handeln und nicht als „spill-over“ des Agierens supranationaler Institutionen. Andererseits zeigen sich deutlich zentrifugale Tendenzen innerhalb der weiteren EU der 28, ablesbar am Dissens über Folgefragen des Binnenmarktes im sozialen Bereich, am Drängen auf eine Rücknahme von Verpflichtungen im Schengen-Raum, bis hin zur Infragestellung der Mitgliedschaft in der EU in Großbritannien, deren konzeptioneller Hintergrund sich auch in den Auffassungen vieler populistischer Parteien und Gruppierungen in den Staaten der EU wiederfindet.

2.            „Vergipfelung“ befördert Renationalisierung

Es scheint, als sei mit der Entscheidung zur Umbenennung der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union vor bald 25 Jahren ein Höhepunkt der Europarhetorik erreicht worden. Seitdem wächst das Streben der Regierungen der EU-Staaten, die Steuerung des Integrationsprozesses sichtbar selbst in die Hand zu nehmen. Am augenfälligsten wird diese Tendenz im Bedeutungswandel und der Praxis des Europäischen Rates. Ursprünglich entstanden als eine Art Reflexionsgremium außerhalb der Verträge, das der Spitzenebene der nationalen Politik den informellen Austausch über die Grundlinien und Entwicklungen ihrer gemeinsamen Politik erlauben sollte, wurde der Europäische Rat immer mehr zur zentralen Entscheidungsebene der EU, und damit auch zum Mittelpunkt der medialen Beobachtung. Hatte man anfänglich den „Chefs“ als Nebenleistung ihres ohnehin stattfindenden Treffens die Klärung einiger im eigentlichen Entscheidungssystem der EU nicht zu verabschiedenden Dossiers mitgegeben (zu eigenen Entscheidungen in diesen Fragen war der Europäische Rat ja rechtlich nicht befugt), agiert der Europäische Rat heute auf eigener Rechtsgrundlage, eigenem Präsidenten und Stab, und mit dem Selbstverständnis eines umfassenden Mandats. Der Ministerrat der EU spielt fast nur noch auf der Ebene der Ständigen Vertreter, der Spitzenbeamten also, eine Rolle; die Europäische Kommission verfügt zwar über ein Initiativmonopol, wird aber faktisch vom Europäischen Rat mit detaillierten Vorentscheidungen und Fristsetzungen ans Werk geschickt oder von Initiativen abgehalten.

Der mediale Sog dieses Wandels ist unverkennbar: Hier ist Europa Chefsache, hier lässt sich Europapolitik personalisieren wie nirgends, als Aufeinanderprallen der Positionen und Temperamente dramatisieren und in den Kategorien von Macht und Hegemonie, von Abhängigkeit und Diktat, von Sieg und Niederlage beschreiben. Ein Staat, eine Flagge, ein Chef – Intergouvernementalismus pur. Es hilft, dass die Beratungen nicht öffentlich sind und die Berichterstattung von den Darstellungen der Hauptakteure und ihrer Büchsenspanner selbst genährt wird. Die Regierungschefs sind jeweils die Zentralakteure in der Politik ihrer Länder, und sie wissen diese Wahrnehmung zu bedienen. Im Ergebnis betreiben Politik und Medien mit dieser Dramatisierung eine Renationalisierung der Europapolitik. Die Inszenierung ihrer Zusammenkünfte prägt die Wahrnehmung der EU und bestimmt zunehmend die Sprache der Europadebatte. Es ist nicht ohne Ironie, dass der Zusammenprall der Regierungspolitiken und politischen Temperamente seine Wirkung hauptsächlich deshalb entfalten kann, weil die EU im Kern eben kein reiner Staatenbund ist. Wäre sie es, fehlte den Beratungen der Druck zur Entscheidung, die Drohkulisse der qualifizierten Mehrheit oder die Lähmung der gemeinsamen Politiken.

3.            Verhandlungslogik und Intransparenz erzeugen Legenden

Die Sozialisierung einer gesamten Generation von Journalisten unter den Vorzeichen der Vergipfelung erfolgte im Übrigen an der Kette der Regierungskonferenzen seit 1990, den Eigentümlichkeiten von Nachverhandlungen im Lichte gescheiterter Referenden oder zur Wiederaufnahme unerledigter Reformfragen der jeweils letzten Regierungskonferenz. Auch das Scheitern des Verfassungskonvents mitsamt der nachfolgenden klassischer Regierungskonferenz hat zur Festigung dieser Wahrnehmung beigetragen. Im Rückblick erscheinen diese Stationen wie Hochämter der De-Europäisierung, denn die jeweils geltenden nationalen Regeln, Traditionen und Vorlieben wurden zur Messlatte der Verhandlungsgegenstände, sei es in der Frage der Vervollständigung der Außenhandelskompetenz der EU, der sozialen Dimension des Binnenmarktes, oder in der Entscheidung über eine Grundrechtscharta, sei es im Ringen um einen europäischen Außenminister oder in der Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen im Rat und der Mitentscheidung des Europäischen Parlaments. Der Primat einer europapolitisch definierten Zielsetzung wie die Entscheidung zur Vollendung des Binnenmarktes galt letztmals 1992 mit dem Vertrag zur Bildung der Wirtschafts- und Währungsunion und 1993 mit den „Kopenhagener Kriterien“ zur EU-Erweiterung. Seither dominieren nationale Interessen und Besitzstände, die von der Politik auf der Basis ihrer Deutungshoheit über intransparente Verhandlungen leicht in den Mittelpunkt medialer Aufmerksamkeit gerückt werden konnten.

Was diese Verschiebung bewirkt, zeigt sich kaum irgendwo plastischer als am Thema der qualifizierten Mehrheitsentscheidung. Deren Reform durchzieht die letzten beiden Jahrzehnte, getrieben durch die große Zahl kleinerer und kleiner Beitrittsstaaten. Unter den Vorzeichen der europapolitischen Verhandlungslogik und ihrer medialen Dramatisierung wurde das Problem der zunehmenden Unregierbarkeit der größeren EU auf Basis der alten Mehrheitsregeln der sechs Gründerstaaten zu einer machtpolitischen Auseinandersetzung um Status und Prestige, um Vetopositionen. „Nizza oder Tod“ – diese Kampfformel der polnischen Europapolitik aus 2003 ist in das Wörterbuch der Europapolitik eingegangen als der Versuch, die EU auf dem Basarniveau des Gipfels von Nizza zu halten, was all jenen merkwürdig vorkommen müsste, die als Verhandelnde oder mediale Beobachter im Jahre 2000 in Nizza selbst anwesend waren und Zeuge des zerfahrenen Verhandlungsprozesses und der tagelangen Abschottung von den in einem separaten Gebäude kasernierten Medien wurden.

In Nizza verdichteten sich symbolisch die Intransparenz gipfelgetriebener Europapolitik und die Umkehrung der Wahrnehmungen. Die Legenden dieser Verhandlungen ließen kaum noch Raum für das ursprüngliche Problem, das ein System von Mehrheitsentscheidungen auf Dauer nicht funktionieren wird, wenn Mehrheiten realistischer Weise kaum zu erreichen sind. Seit diesen Tagen herrscht Misstrauen unter den Regierungen angesichts der Asymmetrie von Wirtschaftskraft und Bevölkerungsgröße unter ihnen, seitdem prägen die Gegensätze zwischen groß und klein, stark und schwach die Interpretation europäischer Entscheidungen.

4.            Die Bedeutung der Kommission schwindet mit ihrer Politisierung

Mit einigem Recht gelten die zehn Jahr der Delors-Kommission 1985-1995 als die letzte große Zeit dieses institutionellen Konzepts einer allein den Verträgen verpflichteten Behörde die von einer scheinbar unpolitischen Warte aus politisch brisante Entscheidungen entwickelte. Vielfach wird dabei übersehen, dass die konzeptionelle Rolle und Initiativkraft Delors und seines Kollegiums nicht denkbar war ohne die politische Unterstützung durch Francois Mitterrand und Helmut Kohl, aber auch die noch bestehende informelle Koalition der Gründerstaaten. Weder besitzen Frankreich und Deutschland heute eine vergleichbare Stellung in der EU 28, noch verfügt die heutige EU über eine entsprechend stabile politische Koalition integrationsengagierter Staaten.

Seit Delors hat kein Kommissionspräsident mehr diese Stellung erreicht, und die Kommission hat als Institution viel von ihrer früheren Autorität verloren, und dies nur zum Teil aufgrund persönlicher Unzulänglichkeiten einzelner Kommissare oder Effizienzmängeln der Institution. Die Verschiebung des Machtzentrums zugunsten der Staats- und Regierungschefs überlagert das Handeln der Europäischen Kommission. In der Konsequenz wurde sie zunehmend zu einer politischen Institution, vielfach instrumentalisiert durch die Interessen und Positionen der Mitgliedstaaten und in ihren Entscheidungen mehr, und mehr von politischen Absichten, Opportunitäten oder Rücksichten geleitet als von der „Sachlogik“ der Verträge. Je erkennbarer der Autoritätsverlust der Kommission im Kreis der Regierungschefs ausfällt, desto stärker schlägt dies auf deren Wahrnehmung in der Berichterstattung durch. Munition findet sich für Journalisten in Kreisen von Regierungen und Interessengruppen reichlich; auch die neue Rolle des Europäischen Parlaments trägt ihren Teil bei. Das Parlament hat erkannt, das sich die politisierte Kommission recht stark auf das EP zubewegt hat, um den gestiegenen Einfluss des Europäischen Rates zu balancieren, und es nutzt die daraus entstehenden Abhängigkeiten für die eigenen Gestaltungsambitionen. Die Ausrufung von Spitzenkandidaten für den Posten des Kommissionspräsidenten im Rahmen der Europawahl dürfte diesen Trend nicht brechen. Abgesehen davon, dass die Nominierung des siegreichen Kandidaten für das Amt durch den Europäischen Rat alles andere als sicher erscheint, würden ein Kommissionspräsident Juncker oder Schulz eher die Bindung an das Parlament als das Eigengewicht der Kommission stärken.

5.            Das Europäische Parlament muss sich neu erfinden

Das bisher tragende Selbstverständnis des Europäischen Parlaments und seiner Mitglieder lässt sich plausibler aus seiner Geschichte als aus seiner Gegenwart erklären. Es lebt aus der Entwicklung der Institution von einer Versammlung delegierter Mitglieder über die erste Direktwahl 1979 bis zum Mitentscheider in den meisten Bereichen der Gesetzgebung auf EU-Ebene. Dieses Parlament begreift sich in erster Linie als Inkarnation der Idee Europas, als Verfechter und Bewahrer der Ziele der Integration gegenüber den kurzfristigen und partikularen Interessen der Regierungen der Mitgliedstaaten.

Die Mitglieder dieses Parlaments repräsentieren ein Abstraktum; selbst der „europäische Bürger“, dessen Interessen sie vertreten, ist stärker eine gedachte Größe als eine demoskopisch zu erfassende Realität. Interessanterweise spiegelt sich dies in der Beobachtung durch die Medien eher am Rande. Weit stärkere Beachtung findet die gelegentliche Blockaderolle des Parlaments, vor allem wenn es das realpolitische Kalkül vieler Regierungen aushebelt, so wie in der zurückliegenden Wahlperiode zu transatlantischen Themen mehrfach vorgekommen ist. Daneben liefern seine Beratungen Material zur Bewertung von Regierungshandeln bzw. zur Einschätzung von Leistung und Gewicht der Kommission.

Das kommende Europäische Parlament wird sich weiterentwickeln müssen, da schon seine Zusammensetzung die einfache Fortführung des bisherigen Musters nicht gestattet. Wenn ein gutes Drittel der Parlamentarier EU-kritischen bis hin zu EU-feindlichen Parteien und Gruppierungen angehört, geraten die übrigen zwei Drittel unter Druck: Zum einen würde ein permanenter Schulterschluss der großen Parteifamilien die Legitimation des Gremiums schwächen und zugleich den Rändern mehr Gewicht verleihen, zum anderen wird die bisherige Europarhetorik im Parlamentsalltag nicht mehr hinreichen, denn sie beruhte auf dem integrationsfreundlichen Konsens des Hauses. Das künftige Parlament  wird repräsentativer für die Stimmungen in der EU sein, ohne sich bisher im Wesentlichen als Repräsentativorgan des tatsächlichen Bürgerwillens zu verstehen. Es wird nur mit größeren Anstrengungen zu klaren Mehrheiten finden und damit an Bedeutung gegenüber dem Europäischen Rat verlieren. Andererseits könnte es zu einem auch für die Medien hochinteressantem Forum für einen neuen Europa-Diskurs werden, wenn die Parlamentarier die Herausforderung ihrer Pluralität inhaltlich ernst nehmen, nach neuen Argumenten suchen und einer neuen Sprache zur Beschreibung der Herausforderungen finden, vor denen sie Europa sehen.

Fazit: Politikmediale Europa-Verschwörung in bester Absicht

In der Perspektive der Medien erscheint die europäische Politik vor allem als Verteilungssystem, in dem die zentrale Frage lautet, wer was und wie bekommt. Diese Wahrnehmung wird befördert durch das öffentliche Interesse an der Nutzenoptimierung des jeweils eigenen Teilsystems sowie durch die auf Zustimmung der eigenen Öffentlichkeit gerichtete Informationspolitik der Regierungen. In diesem Sinne ist Europa relevant, wenn es Vorteile schafft, wenn es die nationalen Interessen bedient und so auch zur Profilierung der nationalen Spitzenpolitiker beiträgt. Ebenso ist Europa relevant, wenn es Nachteile zuteilt, die nationale politische Willensbildung konterkariert und so ebenfalls zur Profilierung der nationalen Spitzenpolitiker beiträgt.

Demgegenüber besitzt die Fähigkeit und Leistung der Europäer, ihre Interessen und Anliegen im internationalen Kontext zu behaupten, eine deutlich geringere Bedeutung, denn sie vermittelt sich erheblich schwerer als Personalisierung des innereuropäischen Kräftemessens auf Gipfelebene auf der Basis von Informationen aus zweiter Hand. Europas Rolle in der Welt ist ein Thema ebenso wie das unzureichende außenpolitische Gewicht der Europäer, doch kaum jemand zieht die passende Verbindung zur inneren Ordnung der EU. Nach innen erscheint Europa vielmehr als zu mächtig, nach außen als zu schwach – als ob es außenpolitische Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit mit weniger Integration nach innen gäbe.

Noch weniger attraktiv erscheint nur die Frage nach der angemessenen Struktur europäischen Regierens, nach der nötigen Zuordnung der Kompetenzen, transparenten Entscheidungsverfahren oder effektiver demokratischer Kontrolle. Effizienz, Transparenz und Demokratie – Schlüsselbegriffe der Vertiefungsdebatte der 1990er Jahre – sind zu Chiffren der Europa-Kritik geworden, anhand derer die europäische Ebene delegitimiert und abgewickelt statt legitimiert und weiterentwickelt werden soll.

Ein Gutteil der Regulierungstätigkeit auf europäischer Ebene verdankt sich dem Versuch der Interessensicherung wirtschaftlicher und politischer Akteure in Teilen der EU; sie wollen Vorteile bewahren, Marktanteile sichern und Absatzchancen vergrößern. Dies gehört zum politischen Betrieb einer Demokratie auf allen politischen Ebenen, doch auf Ebene der europäischen Politik gewinnt sie eine neue Dimension. Nur hier werden partikulare zu proklamierten oder tatsächlichen nationalen Interessen und ihre Behauptung wird zum Anliegen des (national definierten) Gemeinwohls. Solange es keine wirkmächtigen Vertreter des europäischen Gemeinwohls gibt, die ihrerseits das gemeinsame europäische Interesse in einem globalen Kontext plausibel zu machen hätten, fehlt auch den Medien eine Referenzebene ihrer Berichterstattung. Europa-Berichterstattung hängt ab von der Ausprägung einer europäischen Öffentlichkeit wie von einem zumindest diffus gefühlten Raum der Solidarität. Zugleich besitzt neben den tragenden politischen Akteuren wohl keine andere gesellschaftliche Instanz größere Möglichkeiten als die Medien, diese Voraussetzungen zu schaffen.

Beide Seiten, Politik und Medien, scheinen sich in diesem Zwiespalt wohnlich eingerichtet zu haben. Die einen wollen sich die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger bewahren, die anderen die Interessen und Instinkte ihrer Konsumenten bedienen. In Politik und Medien gewinnt die Kurzfristigkeit der Perspektiven gegenüber der großen Linie, gewinnt die Zurechenbarkeit von Erfolg und Misserfolg gegenüber der Notwendigkeit zum Interessenausgleich.

Die Verwertungsbedürfnisse der Medien verstärken den Anreiz zum Intergouvernementalismus so wie dessen Dramaturgie die Darstellungsinteressen der Medien bedient. In der Sprache des medialen Boulevards wäre dies mit „Europa-Verschwörung“ zu betiteln, wobei offen bleibt, was schlimmer ist: das stillschweigende Einverständnis zwischen Politik und Medien, Europa auf diese Art zu vermitteln, oder der Umstand, dass sich beide Seiten dabei von besten Absichten geleitet sehen.

Europa ist heute im umfassenden Sinn politisiert und medial absorbiert, doch dies bekommt ihm nicht. Der europäischen Politikebene fehlt die Robustheit der Innenpolitik, die aus der verfassten Alternativlosigkeit des Prozesses entsteht. Das heutige Europa ist weder hinreichend verfasst noch alternativlos, so sehr dies im Raum der Politik auch bestritten wird.

Der Text ist eine leicht bearbeitete Fassung des Impulspapiers des Autors für die 7. Deutsch-Polnischen Medientage am 8./9. Mai 2014 in Potsdam.

Der European Council on Foreign Relations vertritt keine gemeinsamen Positionen. ECFR-Publikationen geben lediglich die Ansichten der einzelnen Autor:innen wieder.