Wie viel Europa darf es sein?

Eine interessengeleite deutsche Europapolitik ersetzt zunehmend die historisch bedingte Symbiose zwischen Deutschland und Europa. Im post-romantischen Europa des 21.Jahrhunderts bestimmt sich Deutschlands Rolle neu – wie viel Europa darf es sein und was ist der Preis von Nicht-Europa?

1. Das Ende von Jalta und Maastricht

20 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung verblassen zwei zusammenhängende Friedensordnungen, die das 20. Jahrhundert bestimmt haben:

• Die transatlantische Ordnung von Jalta – denn Europa ist unterwegs, eine Partnerschaft ganz neuer Dimension mit Russland anzustreben, während sich die USA von dem europäischen Kontinent zurückziehen;

• Die europäische Ordnung von Maastricht und einer „immer engeren Union“ – denn beide politischen Zielvorstellungen, die Vertiefung der EU bis hin zu einer quasi-föderalen „Finalität“, als auch jene einer transformativen Erweiterung der EU bis weit in den Osten und Südosten des eurasischen Kontinentes hinein, sind ins Stocken geraten.

1949-1989 war die Ausnahmesituation einer Geschichte des „Westens“, den es so nicht mehr gibt. 1949-1989 war auch die Ära einer bundesrepublikanischen Außenpolitik, in der „transatlantische Beziehungen und europäische Integration“ nicht nur zwei Seiten derselben Medaille, sondern Paradigma und Credo zugleich waren. Diese Zeiten sind heute – 20 Jahre nach der Wiedervereinigung – vorbei. Das neue Deutschland ist erwachsen geworden. Damit stellt sich eine neue „deutsche Frage“ für das 21. Jahrhundert, und diese lautet: Wie viel Europa braucht, wie viel Europa will Deutschland noch? Und wie viel Europa ist in Deutschland politisch noch möglich?

Der Bundesaußenminister hat kürzlich in einer Grundsatzrede prinzipiell ein klares Bekenntnis Deutschlands zur europäischen Integration abgegeben. Ob dies indes ausreicht, eine deutsche Haltung umzusteuern, die im europäischen Ausland teilweise schon als Diktat empfunden wird, ist die Frage. Spätestens seit der Eurokrise im Mai dieses Jahres wundern und beklagen sich die anderen EU-Mitglieder über das „neue Deutschland”. Damals waren alle Augen auf Berlin gerichtet und warteten auf Führung in der Krise. Zu sehen war jedoch nur ein sehr zögerliches, nationales Gesicht. In der Europapolitik werden Deutschland zunehmend Alleingänge oder eine Blockade-Haltung vorgeworfen, ob es dabei um die europäischen Beziehungen zu Russland oder um Visa-Regelungen für den Balkan geht. Deutschland drückt sich vor seiner Gestaltungsmacht in Europa, so lautet der Vorwurf.

2. Deutschland und Europa: früher und heute

Zwischen 1949 und 1989 war Deutschland über lange Zeit der „gutmütige Hegemon“ Europas. Unterstützt von den USA und angetrieben durch die Erblast des Zweiten Weltkriegs hat Deutschland in jener Zeit das System der europäischen Integration vor allem durch vier Instrumente gepflegt: Ein starkes deutsch-französisches Tandem, eine Fürsprecher-Rolle gegenüber den kleineren Ländern, große Einflussnahme in der Kommission und die Unterstützung des Europäischen Parlaments.

Deutschlands finanzielle Großzügigkeit zahlte sich in europäischem Machtzuwachs aus. Insbesondere erwarb es sich die Macht, das europäische System weitgehend nach seinen sozioökonomischen und juristischen Vorstellungen zu gestalten – siehe Binnenmarkt und Euro – wovon es selbst bedeutend profitiert hat. Gleichzeitig hat Deutschland dafür gesorgt, dass Erweiterung und Vertiefung über viele Jahre Hand in Hand gingen. Damit war Deutschland (im Gegensatz zu Frankreich oder gar England) stets das einzige große Land in Europa, welches die Integration aktiv voran getrieben hat und damit zum Hauptpfeiler der EU wurde. Kurz: Deutschland hat Europa zu seiner „raison d’état“ gemacht: deutsche Interessen und europäisches Wohl waren das Gleiche, Deutschland und Europa waren in Symbiose!

20 Jahre sind seit der Wiedervereinigung vergangen und die Akzente der deutschen Europapolitik haben sich deutlich verschoben. Das europäische Selbstverständnis Deutschlands ist spätestens seit der „Normalisierungspolitik“ unter Bundeskanzler Gerhard Schröder erodiert.

Heute verteidigt Deutschland zunehmend „seine” nationalen Interessen in Europa. Es fühlt sich überfordert mit der europäischen Führungsrolle. Die Stimmung in der Bevölkerung in Bezug auf Europa ist verdrossen. Die deutsche Parteienlandschaft ist zerstückelt und teilweise von einem populistischen Virus befallen. Die deutschen Leitmedien drehen sich zunehmend um „Berlin“ und entwickeln dabei einen gewissen Autismus. Berlin hat seine Diskursfähigkeit mit dem europäischen Ausland partiell verloren, wie insbesondere während der Euro-Krise sichtbar wurde, als die Diskrepanz zwischen Inlands- und Auslandspresse frappierend war: während das Ausland auf Hilfe vom „Euro-Gewinner“-Land Deutschland wartete, fühlte sich Deutschland auf dem Euro-Rettungsgipfel im Mai betrogen. Die deutschen juristischen Eliten sind dem europäischen Projekt gegenüber ablehnender eingestellt als früher, wie allein schon in der Semantik des Lissabon-Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Ausdruck kommt. Karlsruhe wird inzwischen als Hürde schlechthin für eine zeitgemäße Europapolitik zitiert. Die industriellen Eliten wenden ihren Blick schon seit langem von Europa ab, das allenfalls noch Basis für globale Markstrategien in den aufstrebenden BRIC-Staaten ist. Die ökonomischen Eliten beklagen sich einerseits über die unproduktiven europäischen Partner, benehmen sich andererseits aber zunehmend egoistisch, wenn es um das deutsche Exportwunder geht und übersehen gerne die fast parasitäre Position, die eben jene deutsche Exportdynamik im europäischen Binnenmarkt innehat. Seit der Sommerpause ist die Regierung sichtlich bemüht, der Kritik der mangelnden Binnennachfrage entgegenzusteuern und die jüngsten Wachstumszahlen scheinen ihr Recht zu geben. Der Frage einer wirtschaftlichen Konvergenz in Europa ist man damit aber noch nicht näher gekommen.

Schließlich funktioniert die Balance in den deutsch-französischen Beziehungen nicht mehr, da Deutschland heute selbst über mehr ökonomische und gleichzeitig politische Macht verfügt. Die alte „Symmetrie der Asymmetrien“ (überspitzt: deutsche Wirtschaftsmacht vs. französische Nuklearmacht) ist aufgebrochen. Während die deutsche Macht gewachsen ist, ist die französische Blockade-Fähigkeit im Euro-System gewachsen. Das einstige Tandem hat eine Bruchstelle. Bedauerlicherweise ist auch Frankreich seit längerem zu einem europäischen Problemland geworden.

Zusammengefasst gewinnt man in Berlin zunehmend den Eindruck, Deutschland fühle sich von Europa zurückgehalten, es könne alleine schneller, weiter und besser vorwärts kommen. Gleichzeitig will Deutschland die EU nicht länger führen. Es hat sich von einer europäischen Gestaltungsrolle in eine europäische Opferrolle manövriert. Am liebsten wäre es eine große Schweiz in der Mitte Europas: offen für alle Handelsbeziehungen, aber politisch autark und nach außen nicht rechenschaftspflichtig, geschweige denn verantwortlich oder gar gezwungen, in letzter Konsequenz immer für die gesamte EU einzustehen.

Die Regierung hat in jüngster Zeit begonnen, auf die vermehrte Kritik an ihrer Europapolitik zu reagieren. Die Herkules-Aufgabe indes wird es jetzt sein, in den nächsten Jahren, in denen wichtige europäische Entscheidungen anstehen – allen voran jene über die Institutionalisierung des europäischen Rettungsschirms –, die deutschen Eliten und die deutsche Bevölkerung wieder für das Projekt einer europäischen Solidar-Union zu gewinnen.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Deutschland ist selbstverständlich nicht alleine verantwortlich für den desolaten Zustand der Europäischen Union. Der Virus nationalistischer und zentrifugaler Kräfte – inklusive des Wiederauflebens des Populismus – hat die gesamte Europäische Union infiziert. Es ist sogar legitim, den deutschen politischen Rückzug aus Europa als Reaktion auf die vorherige Abkehr Frankreichs, der Niederlande, Englands, Ungarns oder Italiens zu bewerten. Der europäische Konsens hat in Deutschland länger gehalten als anderswo. Deutschland hat aber eine Schlüsselrolle inne, wenn es darum geht, den anti-europäischen Trend wieder rückgängig zu machen – und zwar ganz einfach, weil Deutschland das größte und ökonomisch wichtigste europäische Land ist. Die EU kann mit einem dysfunktionalen Zypern oder sogar mit einem dysfunktionalen England leben. Aber nicht mit einem dysfunktionalen Deutschland in seiner Mitte.

Die Frage ist also, wie es für Deutschland wieder attraktiv werden kann, Europas Motor statt Europas Bremse zu sein und dem unterschwelligen Denken der neuen „Berliner Republik“, Europa nicht länger zu brauchen, ein Ende zu setzen. Vor allem aber muss in Deutschland wieder darüber diskutiert werden, welchen Vorteil gerade Deutschland von Europa hat, was Europa kosten soll und darf – und was der politische und ökonomische Preis von „Nicht-Europa“ wäre!

3. Das Ende einer Liebesbeziehung

Die Gründe für den deutschen Stimmungswandel sind nachvollziehbar:

• Erstens hat sich die Welt, hat sich Europa verändert. Vertiefung und Erweiterung verlaufen nicht länger synchron. Die EU ist größer, komplexer und langsamer geworden, was die – empfundene – deutsche Kosten-Nutzen-Rechnung in Bezug auf Europa zum Schlechteren verändert hat. Dieses Gefühl findet seinen sichtbarsten Ausdruck in der deutschen „Nettozahlerdebatte“. Es scheint für Deutschland inzwischen oft zu teuer und zu mühsam, seine Interessen mithilfe des europäischen Systems umzusetzen, geschweige denn, wie früher, seine Interessen gleichsam „synchron“ mit denen der EU zu sehen.

• Zweitens hat sich Deutschland verändert. Es ist sowohl älter als auch ärmer geworden, mit ungewohnten sozialen Ungleichheiten – eine Tatsache, die übrigens im europäischen Ausland wenig präsent ist, da sich Deutschland gerne als Exportweltmeister feiert und den Nachbarstaaten konsequenterweise die neuen sozialen Spannungen und politischen Machtverhältnisse in Deutschland verborgen bleiben. Der „Erasmus-Teil“ der Jugend ist wiederum mit einem europäischen Selbstverständnis groß geworden, das die einstige Anstrengung des politischen Projektes schnell vergessen lässt.

Diese Gemengelage hat das außenpolitische Paradigma der alten Bundesrepublik – transatlantische Beziehungen und europäische Integration – als politisch-konstitutiven Referenzrahmen in Deutschland jenseits der offiziellen Rhetorik verändert. Die tatsächliche Außenpolitik Deutschlands zeichnet heute, 20 Jahre nach der Wiedervereinigung, ein anderes Bild der Realität. Die schleichenden und langsamen Verschiebungen der letzten zwei Jahrzehnte treten heute offen zu Tage. Die Besorgnis darüber ist im europäischen Ausland inzwischen groß. Mittlerweile hört man auch von besonnenen Gesprächspartnern die Frage, ob man Angst vor einem neuen, nationalen Deutschland haben muss.

Der oben skizzierte Umschwung ist nicht aufgrund eines „nationalen Masterplans“ in Berlin geschehen. Er ist einerseits Ausdruck eben jener ‚Normalisierung‘ seit 1989 und eines neuen, aber durchaus unschuldigen Nationalbewusstseins. Andererseits geschieht er aufgrund eines fehlenden strategischen Konzepts und einer fehlenden Vision für ein globales Europa im 21. Jahrhundert – und der Rolle des wiedervereinigten Deutschlands darin. Den frühen Versuch einer Antwort darauf stellte bereits 1994 das „Schäuble-Lamers“-Papier zu Kerneuropa dar, das damals in Frankreich indes nicht auf Widerhall stieß und im heutigen Europa nicht mehr zeitgemäß ist. Es ist daher jetzt an der Zeit, die deutsche Rolle in und für ein globales Europa neu zu definieren!

4. Auf dem Weg zu einem post-romantischen Europa

In den kommenden Monaten wird der Preis für Europa neu verhandelt. Die deutsche Geschichte, so lautet die Botschaft aus Berlin, kann nicht mehr zugleich Triebkraft und Schmieröl für die europäische Integration sein. Damit wird eine neue europäische Nüchternheit begründet. Das nostalgiefreie „post-romantische“ Europa ist interessensorientiert und nicht mehr von der Geschichte geleitet. Deutschland ist nicht mehr bereit, letztlich für jeden Kompromiss in der EU zu bezahlen. Dies ist legitim. Es ist aber auch ungewohnt und Europa muss sich darauf erst einstellen. Auch macht der deutsche Ton dabei die Musik – und der klingt derzeit scharf und damit falsch.

Diese Feststellung ist besonders wichtig mit Blick auf die Neuverhandlung des Euro-Rettungsschirms und die deutschen Forderungen. Letztlich geht es um nichts anderes als um die Ergänzung des Euro um eine gemeinsame fiskalische Komponente, die von Anfang an notwendig war. Eine Institutionalisierung des Rettungsschirms wäre der konsequente Schritt in eine europäische Solidarunion, die allerdings nicht zu einer grenzenlosen Transferunion werden darf. Von deutscher Seite wird es hierbei darum gehen, die Bereitschaft zur begrenzten Solidarität gegen den Verzicht auf „fiskalisches Trittbrettfahren“ der europäischen Partnerstaaten durch die Schaffung eines Sanktionsmechanismus sowie eines faktischen Insolvenzmechanismus zu verhandeln. Sollte dies gelingen, wäre das ein Quantensprung für den Euro und für Europa. Es ist indes kein Geheimnis mehr, dass Deutschland in den Verhandlungen, vor allem mit Blick auf eine Vertragsreform, die im Übrigen viele Risiken aufwirft, isoliert ist. Umso wichtiger wird es sein, in ganz Europa die neue „post-romantische“ Befindlichkeit Deutschlands mit Blick auf Europa – und das, was in Deutschland politisch möglich ist – zu verstehen, wenn andererseits deutsche Solidarität für das Projekt Europa verlangt wird.

Der Preis für ein mögliches Auseinanderbrechen des Euro und damit Europas wird in Deutschland bisher weitgehend ignoriert. Andererseits wird vor allem in Berlin entschieden, ob Europa sein globales Potential im 21. Jahrhundert ausschöpfen will und wird! Nur ein europäisches Deutschland wird ganz Europa in eine selbstbewusste und verantwortungsvolle globale Zukunft führen können. In Europa geschieht – wie beim Euro – nichts ohne, geschweige denn gegen Deutschland. Für alle strategischen Zukunftsfelder einer globalen, europäischen Politik – ob es dabei um die Beziehungen Europas zu anderen großen Mächten wie Russland, Indien oder China, die Entwicklung einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur, den Aufbau eines schlagkräftigen Europäischen Auswärtigen Dienstes oder die Entwicklung einer integrierten, klimaverträglichen europäischen Energiepolitik geht – kommt Deutschland daher eine Schlüsselrolle zu!

Deutschland muss sich entscheiden, ob es im Alleingang aus der Europäischen Integration herauswachsen möchte, oder – als Hauptdarsteller und Hauptgewinner zugleich – ganz Europa in eine neue globale Rolle im 21. Jahrhundert führen möchte. Die europäischen Partner sollten indes alles tun, um Deutschland diesen Schritt zu einem solidarischen und starken Euro und Europa zu erleichtern!

Die formatierte Version des Papiers im pdf-Format finden Sie hier

Über dieses Papier:

Dieses Diskussionspapier bildet den Auftakt zu einer Veranstaltungs- und Publikationsreihe zur zukünftigen Rolle Deutschlands in Europa. Es möchte den Rahmen für eine breite öffentliche Diskussion in Deutschland und darüber hinaus bereit stellen. Dieses Programm strebt nach zwei grundsätzlichen Zielen:

• Eine breite Diskussion über die deutsche Rolle in Europa zu beginnen.

• Ideen hervorzubringen, mit denen Deutschland wieder einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung eines global durchsetzungsfähigen und verantwortungsvollen Europas zu leisten vermag.

Die englischsprachige Version dieses Papiers wird als ECFR Memo im November veröffentlicht.

Das ECFR-Programm zur Rolle Deutschlands in Europa wird unterstützt von der Stiftung Mercator.

www.stiftung-mercator.de

 

 

The European Council on Foreign Relations does not take collective positions. ECFR publications only represent the views of their individual authors.

Author

ECFR Alumni · Former Senior Policy Fellow

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