Russland betreibt eine „Heavy-Metal-Strategie“

Russland besitzt weder die militärischen Fähigkeiten, noch hat es Grund, Europa anzugreifen. Auf das Säbelrasseln Putins braucht die Nato nicht zu reagieren. Soll er sich doch verausgaben!

Während ich diesen Artikel am 19. Dezember schrieb, bewegte sich ein russisches Schiff Richtung Kaliningrad, einer kleinen Enklave an der Ostsee, auf dem sich mehrere Iskander-M-Raketen befinden. Diese Boden-Boden-Raketen aus russischer Produktion können mit Nuklearsprengköpfen bestückt werden.

Diese Tatsache führte erwartungsgemäß zu sensationsheischenden Schlagzeilen, die vom Auftakt des Dritten Weltkriegs unkten. Sogar das Auswärtige Amt in Berlin schien besorgt. Bei meinem letzten Besuch in Berlin erwähnten mehrere Mitarbeiter, dass das russische Manöver Sorge über die europäische Sicherheit ausgelöst habe. Sollten wir uns also Sorgen machen? Nicht wirklich, lautet die Antwort – zumindest in der nahen Zukunft. Russland besitzt weder die militärischen Fähigkeiten, noch hat es einen Grund, Europa anzugreifen.

Dennoch ist die Stationierung ballistischer Iskander-Raketen bemerkenswert, da das Manöver Teil eines größeren Trends russischer Militärbewegungen ist. Um langfristig die richtigen Schlüsse aus der russischen Verteidigungspolitik zu ziehen, müssen die Europäer diese Entwicklungen verstehen. In den letzten Jahren haben sich die russischen Kriegsspiele im europäischen Luftraum dramatisch gehäuft: 2013 flog die Nato-Mission „Air Policing Baltikum“ 47 Einsätze wegen der russischen Verletzung des europäischen Luftraums. Im Jahr 2015 wurden die Nato-Piloten über 400 Mal zu scharfen Einsätzen alarmiert.

Hybride Kriegsführung

Die Wahrscheinlichkeit für einen direkten militärischen Zusammenstoß zwischen Russland und den europäischen Staaten ist jedoch relativ gering. Was möchte Moskau also mit diesen militärischen Drohgebärden bezwecken? Die russische Strategie ist für alle sichtbar versteckt: Die Militärmanöver können als „Heavy-Metal-Diplomatie“ beschrieben werden. Mit dem Säbelrasseln will Moskau seine Schwächen auf dem konventionellen diplomatischen Parkett kaschieren. Genauso wie es mit der sogenannten hybriden Kriegsführung Konflikte und Auseinandersetzungen verschleiert, um von seinen militärischen Schwächen abzulenken, oder durch gezielte Desinformationskampagnen versucht, seinen geringen politischen Einfluss, die sogenannte Soft Power, zu kompensieren. Seit der Krim-Annexion 2014 haben sich die Beziehungen zwischen Russland und der EU dramatisch verschlechtert, und Russland greift deutlich stärker auf die provokative Heavy-Metal-Diplomatie zurück.

Druck auf die EU ist nicht nur schlecht

Ziel dieser Strategie ist es, die EU-Staaten einzuschüchtern und von bestimmten Handlungen abzuschrecken – so will Moskau etwa den Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands oder die Stationierung von Nato-Bataillonen in den baltischen Staaten verhindern.Der Druck auf einzelne Staaten soll die Meinungsverschiedenheiten über die Ausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik der EU- und Nato-Mitgliedstaaten verschärfen. Ob diese Strategie wirkt, lässt sich schwer beurteilen. Zweifellos haben sich die Trennlinien innerhalb der Transatlantischen Allianz und auch in der EU verschärft und dazu beigetragen, dass „der Westen zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, um zu handeln“, wie mir ein russischer Diplomat sagte. Allerdings haben Moskaus Militäraktionen auch dazu geführt, dass 16 Mitgliedstaaten der Nato ihre Verteidigungsetats im letzten Jahr effektiv aufgestockt haben; zwölf dieser Staaten erhöhten ihre Militärausgaben prozentual zum Bruttoinlandsprodukt.

Die Nato wird politisch provoziert

Das ist kein Hinweis darauf, dass die Transatlantische Allianz am Rande des Zusammenbruchs steht. Nichtsdestotrotz kann der Druck Russlands auf die Nato dazu führen, dass einige Staaten auf Dauer ihre Einsatzfreude verlieren. Obendrein erhalten die militärischen Aktivitäten Russlands so große Aufmerksamkeit, dass seine neuen hybriden Kriegsmethoden aus dem Blickfeld geraten. Doch genau diese Verschleierungstaktik könnte Europa weit mehr gefährden. Die Europäer müssen erkennen, dass Manöver wie der Iskander-Einsatz hauptsächlich politisch motiviert sind. Es gibt keinen konkreten Nachweis dafür, dass Russland die Absicht hat, in eine militärische Auseinandersetzung mit einem EU- oder Nato-Staat zu geraten. Daher ist die richtige Antwort auf die militärischen Drohgebärden am besten, nichts zu tun. Das scheint nicht zuletzt die beste Strategie, um Präsident Wladimir Putin nicht auch noch wichtige Informationen zu den Fähigkeiten und Reaktionszeiten der Nato-Truppen preiszugeben.

Nutzlose Kriegsspiele Putins

Dass die Verletzung des europäischen Luftraums durch Russland zu einem militärischen Zusammenstoß führt, scheint praktisch fast unmöglich. Der europäischen Sicherheitspolitik kann es durchaus gelegen kommen, wenn Putin seine Energie in nutzlosen Kriegsspielen verbraucht. Gleichzeitig muss der Westen mehr für seinen internen Zusammenhalt tun. Denn die zweifelnden Stimmen, welche die Nato-Mechanismen und die traditionelle transatlantische Sicherheitskooperation infrage stellen, werden immer lauter. Diese Entwicklung darf nicht einfach ignoriert oder als Folge der russischen Desinformationskampagne abgeschrieben werden. Um die Wirksamkeit der politischen Kriegsführung Russlands in Europa einzudämmen, müssen die europäischen Mitgliedstaaten gleichermaßen ihre Verteidigungsetats erhöhen und der internen Spaltung entgegenwirken – und Letzteres ist die eigentliche Herausforderung.

Dieser Artikel erschien am 25. Dezember 2016 als Gastbeitrag auf Welt.de

Der European Council on Foreign Relations vertritt keine gemeinsamen Positionen. ECFR-Publikationen geben lediglich die Ansichten der einzelnen Autor:innen wieder.